Tourenberichte

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Ural Pilgrimage 2007 .

„Wohin fährst’n in Urlaub?“ -  „Nach Sibirien, Motorradfahren“

Ratloses Entsetzen macht sich auf dem Gesicht des Gesprächspartners breit! Kaum hat sich mein Gegenüber wieder gefasst, werden sämtliche Klischees verpackt in eindringliche Warnungen: vor unbefahrbaren Schlammpisten, vor Dauerregen und Schneestürmen, vor schutzgelderpressenden Wegelagerern, vor korrupten Milizen bis hin zur willkürlichen Inhaftierung in einem der berüchtigten Straflager, und – natürlich nicht zu vergessen – vor den Russengurken von Motorrädern, mit denen man ja bekanntlich sowieso nicht weit kommt…

An eine unversehrte Rückkehr scheint hingegen keiner zu glauben. Nachdem wir – ein lustiger Trupp aus zehn gelände-besessenen Uralfahrern mit drei „Schmiermaxen“ vom Feldjäger-Stammtisch um den Dortmunder Ural-Händler Peter Heidingsfelder  –  Anfang August dann tatsächlich in Jekaterinburg gelandet sind, erwartet uns auf der sogenannten „Ural Pilgrimage 2007“ allerdings eine sibirische Realität von weit geringerer Dramatik:- zehn Ural Werks-Gespanne, die wir während der einwöchigen Tour gute 800km durch die südöstlichen Ausläufer des Ural-Gebirges quälen. Trotz der noch von den Gelände-Exzessen unserer Vorgänger-„Reisegruppe“ zeugenden äußeren Blessuren an den Maschinen gibt es außer ein paar loser Speichen und einer gebrochenen Benzinkanister-Halterung keine technischen Ausfälle …- zwei oder drei Regenschauer als kurze Abkühlung bei sonst durchgehend „sonnencreme-pflichtigem“  Wetter …- „blühende Landschaften“ mit sich abwechselnden Birkenwäldern, Weizen- und Rapsfeldern, Grasflächen, Flussläufen und Seen. Hier und da wird die Natur jedoch verschandelt von kargen Abraumhalden, so in besonders trostlosem Ausmaß im Gebiet um die Kupferhütte von Karabasch …- entlegene Dörfer, die irgendwo in der Zarenzeit stehen geblieben zu sein scheinen. Hier hacken und stapeln die Bewohner bereits jetzt den Brennholzvorrat für den bevorstehenden Winter.

Die meist windschiefen Holzhütten sind umgeben von Gemüsegärten, Hühnern, Gänsen, Ziegen, vereinzelt auch einer Kuh. Selbstversorgung ist hier Überlebensprinzip. Trotz allem strahlen die Dörfer auf uns eine gewisse Idylle aus …- ausgesprochen reizvolle junge Russinnen in ihren knallbunten Miniröcken. Sie erzeugen einen angenehmen Kontrast zu den tristen Plattenbau-Siedlungen und qualmenden Schloten der Industriestädte …- aufgeschlossene und kontaktfreudige Menschen gegenüber uns Touristen. Als solche werden wir sofort daran erkannt, dass unsere Gespanne weder mit Viehfutter, Erntegut oder Brennholz überladen sind, noch als Zugmaschine für landwirtschaftliches Gerät herhalten. Ural-, Dnepr- und die 2-taktenden „Ish“-Gespanne dienen der ländlichen Bevölkerung nicht zum Freizeitspaß, hier sind sie reine Nutzfahrzeuge und meist von den Spuren jahrzehntelangen gnadenlosen Arbeitsdienstes gezeichnet …- von Schlaglöchern übersäte Landstraßen und „Autobahnen“. Hier werden wir bereits am ersten Tag mit den lebensverneinenden und action-geladenen Überholtechniken der russischen PKW- und LKW-Fahrer konfrontiert.

Ein weiterer Grund für uns, ab sofort alle Hauptverbindungsstraßen großräumig zu umfahren …- staubige Buckelpisten, Feld- und Waldwege – das wird für den Rest der Reise unser Eldorado! Zirkeln wir anfangs noch zaghaft im 1. Gang um die ausgefahrenen Spurrillen, Löcher und Pfützen, heißt es bald nur noch im 3. und 4. Gang: „Augen zu, Hahn auf und drüberfliegen!“ Diese ganztägigen Geländeritte machen süchtig und meißeln uns ein Dauergrinsen in die dreckverkrusteten Gesichter …- unzählige von Birkenwäldern umsäumte Seen. Beim abendlichen Bad dienen sie uns zur Erfrischung und Körperpflege. An ihren Ufern werden die Zelte aufgebaut, bevor wir den Tag mit Totschlagen von Mücken, mit Benzingesprächen sowie mit dem Lauschen der bühnenreif vorgetragenen Reise-Anekdoten unseres Globetrotters Hermann ausklingen lassen …- unser Begleitfahrzeug: ein Benz-Transporter 608D, frühes 80er-Bj., geschätzter km-Stand 1Million. Er birgt das komplette „All Inclusive“-Equipment der Reise in sich: Werkzeug und Ersatzteile für die Urals (und für sich selbst), Benzinkanister, Zelte, Tisch-Garnituren, Herd, Kühlschrank und Lebensmittelvorräte. Dazwischen findet sich zu unserem Erstaunen noch Platz für die 5-köpfige Begleit-Crew: Fahrer und „Reiseleiter“ Sergej (seines Zeichens mehrfacher russischer Moto-Cross-Gespann-Meister auf Ural), Dolmetscher Anatoli (Zitat: „Wodka – zwei Finger breit – ist beste Dolmetscher!“), Mechaniker Sascha, der auf den 8.000 Gesamt-km der zehn Gespanne ebenso „arbeitslos“ bleibt wie Ärztin Swetlana. Mit ihrer Hilfe zaubert Köchin Olga aus den Tiefen des Transporters die üppigsten Mahlzeiten für uns hervor. Stets knoblauchreich, mit frischem Fisch, Fleisch und Gemüse. Diese genießen wir am abendlichen Lagerfeuer mit reichlich russischem Bier, Marke „Uralskij Master“ oder „Baltika“, und – nicht zu vergessen – dem Grundnahrungsmittel Wodka …- eine Extra-Dosis Wodka zum 70sten Geburtstag von „Dauerblinker“ Heinz, der uns zeigt, wie man seinen Ruhestand sattel- und trinkfest auch ohne „Betreutes Wohnen“ genießen kann. Wir wünschen unserem Heinz noch viele Jahre auf seiner Ural …- und schließlich, als Ziel der Pilgerreise – der Besuch in der Geburtsstätte unserer kultigen Kräder, dem URAL-Werk in Irbit: Beeindruckt erleben wir während der Führung durch die maroden Fertigungshallen, wie der im letzten Jahrzehnt aufgrund rückläufiger Inlandsnachfrage stark geschrumpfte Mitarbeiterstamm, teils auf historischen Dreh- und Fräsmaschinen, teils in mühevoller Handarbeit (Schweißen, Schleifen und Lackieren der Blechteile) dafür sorgt, dass in der Endmontagehalle schließlich versandfertige Motorräder in Reih und Glied stehen und auf ihren finalen 20-minütigen Prüfstandslauf warten.

Das konsequente Qualitätswesen als Bestandteil der heutigen Ural-Produktion ist maßgeblich unserem Reise-Organisator und Begleiter Hari Schwaighofer aus Linz zu verdanken, der als Europa-Importeur mit Ural Motorcycles Linz, dem European Distribution Center darüberhinaus durch Verwendung hochwertiger Komponenten wie Brembo-Scheibenbremsen, Keihin-Vergaser, Nippon Denso-Lichtmaschinen oder Ducati-Transistorzündungen, um nur einige der namhaften Zulieferer zu nennen, die ständige Verbesserung der Russenkräder vorantreibt. In der Testabteilung überzeugen wir uns durch einen Blick auf die bereits auf Euro3-Abgasnorm umgerüsteten 2008er-Motoren davon, dass das Grundkonzept der luftgekühlten Vergaser-Boxer glücklicherweise weiterhin auch ohne elektronischen Schnickschnack erhalten bleiben wird!

Beim Besuch des Werksmuseums präsentieren sich neben Produkten des ehemaligen Klassenfeindes wie BMW, Harley, Japaner, Vincent usw. auch Werks-Renngespanne für Straße und Gelände sowie kuriose Prototypen aus der Ural-Geschichte, so z.B. ein Boxer-Motor mit 4 Zylindern in Stern-Anordnung.Hier lernen wir auch den Guinnessbuch-Rekordhalter im „Gespannfahren auf 2 Rädern“ kennen, der Mitte der 90er Jahre unglaubliche 1014 km non-stop – ohne Bodenberührung des Beiwagenrades – zurückgelegt hat!Nach dieser Fülle an Eindrücken fällt uns der Abschied von unseren zu Freunden gewordenen russischen Begleitern und von dem „neuentdeckten“ Motorrad-Paradies um so schwerer, sodass wir bereits auf dem Rückflug die nächste Sibirienreise planen. Natürlich wieder auf URAL-Gespannen! Diesmal allerdings im Winter!!! Bilder zur Verdeutlichung des Berichtes könnt Ihr hier auf unserer Homepage betrachten.

Arne Liebscher, Sept. 2007

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